Wer sich schon immer gefragt hat, was Sigmar Gabriel über Karl Mays legendären Häuptling Winnetou denkt, hat diese Woche die Antwort erhalten. In den sozialen Medien gab es Tausende Kommentare über Zensurvorwürfe, nostalgische Erinnerungen und die Angst, dass Karl Mays Geschichten über die Apachen demnächst verboten werden. Sogar die Politik schaltete sich ein. Doch was hat die Aufregung ausgelöst?
Hier im Artikel erklären wir, warum der Ravensburger Verlag ein neues Winnetou-Buch aus dem Handel genommen hat und was das mit einem kontroversen neuen Kinderfilm zu tun hat.
Warum der Ravensburger Verlag ein neues Winnetou-Buch aus dem Handel nahm
Hintergrund der Debatte ist ein Kinderbuch, das zum Start des Films Der junge Häuptling Winnetou erscheinen sollte. In dem Film nach einem Drehbuch von Mike Marzuk und
Gesa Scheibnerwird von den kindlichen Abenteuern des Apachen-Häuptlings Winnetou erzählt. Es ist keine direkte Adaption der Werke von Karl May, sondern ein neuer Stoff, der von Mays Geschichten inspiriert wurde.
Die Kritik an dem Buch: Stereotype und Verharmlosung eines Genozids
Am 11. August, dem Tag des Kinostarts, veröffentlichte der Ravensburger Verlag einen Instagram-Post mit Werbung für das Buch zum Film. Daraufhin wurde in den Kommentaren Kritik an dem Projekt geäußert. So schrieb die Organisation Natives_in_Germany:
Wow, das enttäuscht uns besonders, da aus eurem Verlag kürzlich unsere Hilfe für einen neuen Kinder-Weltatlas angefragt wurde. Und jetzt das. Anstatt echte Indigene Repräsentation zu fördern, wurde hier mit minimalem Aufwand ein Buch auf Basis des Films erstellt. Wenn es um Profit geht, ist die antirassistische Haltung scheinbar schnell vergessen.
In weiteren Kommentaren wurde dem Verlag die Reproduktion von rassistischen, kolonialen Stereotypen und die Verharmlosung des Genozids an den indigenen Völkern Nordamerikas vorgeworfen.
Die Reaktion des Verlags: Das Buch wird nicht mehr ausgeliefert
Der Ravensburger Verlag reagierte mit einem Stopp der Auslieferung der beiden Versionen des Buchs und nahm zudem ein Sticker-Buch und ein Puzzle zum Film aus dem Handel. In einem Statement (via SWR3) begründet der Verlag die Entscheidung:
Wir haben es sorgfältig abgewogen und entschieden, die Titel zum Film ‚Der junge Häuptling Winnetou‘ aus unserem Programm zu nehmen. [...] Bei den genannten Winnetou-Titeln sind wir nach Abwägung verschiedener Argumente zu der Überzeugung gelangt, dass angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, hier ein romantisierendes BiId mit vielen Klischees gezeichnet wird.
Die Reaktion im Internet: Sigmar Gabriel hat auch etwas zu sagen
Die Reaktion des Verlags erntete Kritik, unter dem Instagram-Post häuften sich unzählige Kommentare an. Bei Twitter äußerte der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel seine Liebe zu den Winnetou-Geschichten:Empfohlener redaktioneller Inhalt
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Bei der Kritik im Netz lassen sich mehrere Tendenzen ausmachen, darunter:
- Kritik am problematischen Verständnis von Fiktion und Kunst, die eben kein Spiegel der Realität seien
- Kritik an der sogenannten "Cancel Culture". Unter dem Hashtag #Woke wurde die Debatte unter anderem von Abgeordneten der AFD aufgenommen, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtet wird
- Verteidigung von Karl Mays Werk und der Winnetou-Verfilmungen mit Pierre Brice als prägender Teil der eigenen Kindheit
Wichtig: Aktuell sind keine Bemühungen bekannt, die Bücher von Karl May zu "verbieten" oder die Verfilmungen seiner Romane über Winnetou und Old Shatterhand aus dem Handel zu nehmen.
Der neue Winnetou-Film spaltet sein Publikum
Die Debatte fokussiert sich hauptsächlich auf das Buch zum Film, während Der junge Häuptling Winnetou weiter in den deutschen Kinos läuft. Der Kinofilm hatte von der Deutschen Film- und Medienbewertung das Prädikat "besonders wertvoll" erhalten. Die Jury war aber eigenen Angaben zufolge "absolut gespalten".
Laut Jury-Begründung gab es eine Fraktion mit folgenden Argumenten gegen den Film:
- Es sei "in unserer Zeit nicht mehr zulässig, einen Film und im Besonderen einen Kinder- und Jugendfilm im Geist der mythisch aufgeladenen und sehr klischeehaft darstellenden Karl May–'Folklore' zu realisieren."
- Der Film selbst wird als "kitschiges rückwärtsgewandtes Theaterstück, das nichts mit der Realität zu tun habe", beschrieben.
- "Karl Mays literarische Idylle im Herkunftsland der indigenen Völker Nordamerikas sei, so die Aussage der Jury-Mitglieder, eine Lüge, welche den Genozid an den Ureinwohnern Amerikas und das ihnen zugefügte Unrecht der Landnahme der weißen Siedler und der Zerstörung ihres natürlichen Lebensraumes vollkommen ausblenden würde. "
Demgegenüber stand die Mehrheit der Jury, welche die Geschichten von Karl May als "Märchen" aus einem erfundenen "Indianerland" betrachtet, die Übertragung des Erwachsenenstoffs in ein Kinderfilm-Drehbuch als gelungen empfand und Veränderungen hervorhob, die im Sinne der Gleichberechtigung löblich seien.
Insgesamt sieht die Mehrheit der Jury Der junge Häuptling Winnetou als gelungenen Kinderfilm, der einem großen Familienpublikum sicher viel Freude bereit wird.
Auch in den Feuilletons gibt es zahlreiche kritische Stimmen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieb Claudius Seidl die Klischeebilder des Films als "dumm, provinziell, ignorant". ZEIT-Autor Matthias Dell sah "eine triste Raubkopie" und kritisierte, dass der Film "in Deutschland ausgedachte Apachen" in die Gegenwart holt, ohne zu beachten, wie sich der Diskurs über das Thema seit den letzten Filmen verändert habe. Sein Fazit zum Film: "Das hat Karl May nicht verdient."
Und nun? Lesenswertes und Hörenswertes zur Debatte
- In der Corso-Folge des Deutschlandfunks vom 11. August spricht Tyrone White, ein O'ohe Nuŋpa Lakota vom Stamm der Cheyenne River Sioux, über den neuen Winnetou-Film und die Praxis des Redfacings. Bei Vice gibt es einen lesenswerten älteren Text von ihm über "Indianer"-Kostüme und kulturelle Aneignung
- Bei 54Books schreibt Johannes Franzen über die "verwirrte Mischung aus erinnerter Liebe und Unschuld", die aus den trotzigen Winnetou-Tweets hervorgeht
- Bei Deutschlandfunk spricht Ijoma Mangold über das "falsche Verständnis von Fiktion", das hinter dem Buch-Stopp stehe
[...] Es war auf jeden Fall etwas blauäugig von dem Verlag, so ein Buch im Jahr 2022 herauszugeben. Es ist - gerade in den letzten Jahren - ein anderes Bewusstsein für Klischees entstanden. Man hätte also ahnen können, dass es nicht gut ankommt, wenn man Karl Mays Phantasie-Indianerland aus den 1890er-Jahren einfach so zu einer Kindergeschichte zusammenrührt.